Kann ich dir eine Frage stellen:
Wie stehst Du zu unerledigten Aufgaben?
Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich erledigte Sachen deutlich mehr mag.
Dinge, die zu einem Ende geführt wurden und dann im Archiv des Lebens an die richtige Stelle einsortiert werden können. Wenn alles an seinem Platz ist, muss man ja auch nicht viel suchen.
Das gilt übrigens auch für Geschichten.
Eine Geschichte sollte logisch aufgebaut sein, eine Spannungskurve haben. Und am besten auch ein sinnvolles Ende.
Ein Ende, was mich im Anschluss ruhig schlafen lässt. Am besten auch direkt alle offenen Fragen klärt, die mit der Geschichte verbunden sind. Dann muss man ja auch nicht weiter nach Antworten suchen.
Solche Suche kostet nämlich Energie. Energie, die stattdessen in sinnvollere Sachen investiert werden kann.
Das gleiche gilt auch für etwas, was unerledigt bleibt, obwohl man lange daran gearbeitet hat und eigentlich schon glaubte, nah am Ziel gewesen zu sein.
Einige Leute sagen, dass wir wohl generell keine unerledigten Sachen mögen, denn viele davon scheinen in uns weiter zu leben. Uns auf gewissen Ebenen keine Ruhe zu geben.
Wir suchen dann oft weiter nach Lösungen, so ganz nebenbei, ohne es vielleicht bewusst zu merken.
Es war mal eine junge Frau, die sehr aufmerksam war und viele Dinge hinterfragte, die ihr Umfeld vielleicht als gegeben betrachtet hätte.
Sie ging eines Tages mit einem Bekannten ins Cafe, sie setzten sich an einen Tisch am Fenster und gaben dem herbeigeeilten Kellner ihre Bestellung auf.
Der Kellner hörte ihnen aufmerksam zu, schrieb aber nichts auf. Als die üppige Bestellung fertig war und er sich schon umdrehte, um damit in die Küche zu gehen, hat die junge Frau ihn ungläubig gebeten, die Bestellung zu wiederholen. Sie hatte nämlich ihre Zweifel daran, ob er sich so schnell alles merken konnte.
Der Kellner wiederholte alles bis aufs kleinste Detail. Er schien sich also alles lückenlos gemerkt zu haben. Das war sehr beachtenswert und die junge Frau hat ihn sehr dafür gelobt und sich nochmals bei ihm bedankt.
Nachdem sie mit dem Essen fertig waren, kam derselbe Kellner, um die Zahlung entgegenzunehmen. Er kam mit einer Quittung in der Hand und wollte sie kurz mit ihnen zusammen durchgehen.
Dann hat die junge Dame ihn gebeten, die Bestellung noch einmal ohne den Zettel zu wiederholen.
Und er konnte das nicht. Das, was er noch vor kurzem bis ins kleinste Detail in seinem Kopf hatte, war nun auf einmal nicht mehr da.
Er hat es nämlich schon gedanklich abgehakt. Als erledigt betrachtet. Und dann war es für ihn einfach weg.
Ich merke mir auch eher Unerledigtes. Unrealisierte Ziele, unerfüllte Bedürfnisse, nicht zu Ende geführte Vorhaben, aus irgendeinem Grund ungesagte Worte.
Egal, welche Form Unerledigtes hat, es lebt in mir weiter. Und erzeugt dabei eine Art von Unruhe, eine gewisse Spannung.
Und je wichtiger diese unvollendete Sache für mich ist, desto größer ist die Spannung, die sie erzeugt.
Und ich merke immer wieder, dass es etwas in mir gibt, das diese Sache ergänzen will, zu einem logischen Ende führen will.
Ich ertappe mich dabei, wie ich nebenbei daran denke. Wie ich plötzlich von etwas komplett anderem daran erinnert werde.
Und ich merke es auch daran, dass ich ab und zu davon träume, wie ich manche unerledigte Sachen zu Ende führe.
Ich möchte dir jetzt eine Geschichte erzählen, die mir in einem Buch* begegnet ist.
Es gab mal einen reichen Mann. Er war so reich, dass er sogar einen eigenen Koch hatte. Und dazu noch einen richtigen Butler.
Der Mann hatte eigentlich alles, was er brauchte. Und trotzdem wirkte er oft unzufrieden, so als ob ihm ständig etwas gefehlt hätte.
Dann erfüllte er sich den nächsten Wunsch und war eine kurze Zeit lang etwas zufriedener als sonst. Aber so richtig glücklich war er trotzdem nicht.
Anders der Butler. Er hat sein Leben so lieb gehabt. Immer gut drauf, immer voller Energie, angetrieben von unerschöpflicher Freude.
Dem reichen Mann ist es irgendwann aufgefallen. Er rief den Butler zu sich und fragte, wie es denn sein kann, dass er immer so gut drauf ist.
Der Butler hat in seiner Antwort eine gehörige Portion Demut durchschimmern lassen und sagte: „Jeder Tag ist für mich eine Chance. Ich habe einen guten, stabilen und ruhigen Job. Und ich mache meine Sache gut. Ich werde dafür zudem ordentlich bezahlt und bekomme sogar manchmal ein paar Münzen extra als Trinkgeld. Ich kann oft Reste von exquisitem Essen nach Hause mitnehmen und meine Familie daran teilhaben lassen. Ich bin deshalb glücklich, weil ich absolut keinen Grund dafür habe, unglücklich zu sein.“
Als er wieder gegangen ist, rief der reiche Mann einen seiner ebenso reichen Freunde an und erzählte ihm von dieser Unterhaltung.
„Das kann doch wohl nicht wahr sein. Der Butler veräppelt mich doch!“, sagte er.
Sein Freund antwortete: „Ja, das kann sein, aber wen kümmert‘s. Willst Du das denn unbedingt ändern?“
„Ich will nur den wahren Grund dafür erfahren, warum er immer so gut drauf ist“.
Der Freund sagte: „Ja, also für mich sieht es so aus, dass er sich außerhalb des Kreises befindet“.
„Was meinst Du genau mit „außerhalb des Kreises“, was ist es genau für ein Kreis? Und warum ist er außerhalb dieses Kreises?“
„Es ist der Kreis der neunundneunzig, der diejenigen unglücklich macht, die sich darin befinden.“
„Aha, interessant, und wie ist er aus diesem Kreis herausgekommen?“
„Nun ja, mir scheint es so, als ob er noch nie drin gewesen wäre.“
„Hör mal, was genau meinst Du damit? Kannst Du vielleicht mal aufhören, in Rätseln zu reden?“
„Ich kann dir genau zeigen, was ich damit meine. Und zwar indem ich deinen Butler in diesen Kreis eintreten lasse.“
„Aha, und wie machst du das? Zwingst du ihn etwa dazu oder wie genau läuft das?“
„Nein, glaub mir, sobald er die passende Möglichkeit dazu hat, wird er schon freiwillig in diesen Kreis eintreten“.
„Ja, das will ich ja mal sehen. Vielleicht erfahre ich dann ja mehr über die wahren Gründe seines Frohsinns.“
„Gut, aber es kann sein, dass er danach nicht mehr der alte sein wird. Viele Menschen verändern sich nämlich, wenn sie in diesen Kreis eintreten.“
„Ach ja, ich glaube, das werde ich verkraften. Was genau muss ich denn dafür tun?“
„Ok, pass mal auf, alles was wir dafür brauchen, ist eine Tasche mit neunundneunzig kleinen Goldbarren, die Du bitte für heute Abend vorbereitest. Genau neunundneunzig, nicht mehr und nicht weniger. Ich hole dich kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit ab.“
„Ja, das geht in Ordnung“.
Die beiden gingen mit dieser Tasche noch am gleichen Abend zum Haus des Butlers. Der reiche Mann musste noch einen Zettel dazu schreiben, auf dem folgendes stand: „Dieser Goldschatz ist für dich, dafür dass du so ein guter Mensch bist.“
Dann haben sie die Tasche mit Gold vor die Tür gelegt, geklingelt und sich so im Gebüsch versteckt, dass sie das Wohnzimmer durchs Fenster gut beobachten konnten.
Der Butler war allein zu Hause, weil seine Frau mit den beiden Kindern bei ihren Eltern übernachtete. Er machte die Tür auf, entdeckte die Tasche, machte sie auf und staunte nicht schlecht, als er das ganze Gold gesehen hat und den beigelegten, handgeschriebenen Zettel las.
Er konnte seinen Augen nicht trauen. Eine Tasche voller Gold, die scheinbar wirklich für ihn bestimmt war! Das war unglaublich. Er hat für einen Moment die Zeit und die Welt um sich herum vergessen. Er sah die kleinen Goldbarren im Licht der Deckenlampe schimmern und edel glänzen.
Er breitete das Gold auf dem Wohnzimmertisch aus und konnte sein Glück nicht fassen. Er hat in seinem Leben noch nie auch nur einen Goldbarren gesehen, geschweige denn in der Hand gehabt. Es war ein überschwängliches Gefühl.
Er formte daraus ein Herz, dann einen Kreis, ein Viereck, alle möglichen geometrischen Figuren. Er war außer sich vor Freude.
Er stapelte die kleinen Goldbarren erst paarweise, baute dann größere Stapel und irgendwann zählte er sie und legte sie schön ordentlich in gleichmäßigen 10er Stapeln nebeneinander.
Und dann merkte er, dass im letzten Stapel ein Goldbarren fehlte. Erst dachte er kurz nach, durchsuchte dann die Couch, die Tasche, das Wohnzimmer. Das hundertste Stück Gold war einfach nicht da.
„Wie kann das denn sein, dass ein Stück fehlt?“, flüsterte er und schaute dabei zerstreut auf den Boden. „Es geht doch nicht mit rechten Dingen zu, ich wurde doch nicht etwa bestohlen?!“
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, die Augen wanderten ziellos durch den Raum, die Lippen wurden schmal, er dachte angestrengt nach.
„Ohne den hundertsten Goldbarren ist der Schatz doch nicht komplett. Das muss doch ein Fehler sein. Wie kann ich das denn wieder in Ordnung bringen?“
Er schnappte sich einen Stift und ein Blatt Papier und setzte sich an den Tisch. Er atmete einige Mal tief ein und aus, um sich etwas zu beruhigen.
„Wie komme ich denn an den fehlenden Goldbarren? Wie lange dauert es, bis ich es mit meiner Arbeit verdiene?“
Er rechnete nach und es kam heraus, dass er mit seiner Butler-Stelle etwa 15 Jahre dafür brauchte.
„Das ist viel zu lang. Wie kann ich denn mehr Geld verdienen und dadurch schneller zum Ziel gelangen? Ich könnte noch ein paar Nebenjobs annehmen und dafür abends und am Wochenende arbeiten. Meine Frau könnte ebenfalls noch etwas aufstocken. Das ist aber immer noch zu wenig.“
„Vielleicht könnte ich das Essen, das mir manchmal mitgegeben wird, in der Stadt verkaufen. Und wir könnten etwas zu Geld machen, was wir nicht dringend brauchen, vielleicht einige Möbelstücke oder Schmuck, den meine Frau von ihrer Mutter geerbt hat.“
Er rechnete, strich einige Sachen durch, rechnete wieder neu. Von seiner bisherigen Gemütlichkeit und Sorglosigkeit war auf einmal nichts mehr zu sehen.
Er hat an diesem Abend fest beschlossen, alles in seiner Macht stehende zu tun, um an den hundertsten Goldbarren zu kommen. Denn ohne dieses Stück Edelmetall konnte er den ganzen Schatz nicht genießen.
Erst nachdem die hundert Goldbarren komplett waren, konnte man sich zur Ruhe setzen und den Rest des Lebens friedvoll genießen, ohne sich finanzielle Sorgen machen zu müssen.
Der reiche Mann rief ein paar Tage später seinen Bekannten an und berichtete, dass der Butler sich seit diesem Abend komplett verändert hat. Er hat seinen Dienst zwar immer noch nach Vorschrift erledigt, doch von der Lebensfreude war nichts mehr zu sehen, sie wich der steifen Zielstrebigkeit und grimmigen Entschlossenheit.
„Du hattest völlig recht“, sagte der reiche Mann am Telefon. „Er muss tatsächlich in den Kreis der neunundneunzig eingetreten sein, anders kann ich mir diesen deutlichen Sinneswandel wirklich nicht erklären.“
Der Butler steigerte sich immer weiter hinein, arbeitete bald fast rund um die Uhr, verkaufte den Großteil seines Haushalts und bekam irgendwann Probleme mit Menschen, die ihm nahestanden.
Seine zunehmende Müdigkeit war ihm deutlich anzusehen, er nahm deutlich ab und wurde, bedingt durch den ganzen Stress, immer unfreundlicher.
Das ging soweit, dass er irgendwann entlassen wurde. Wahrscheinlich denkt er auch heute noch besorgt daran, wie er an den fehlenden Goldbarren kommt, anstatt von seinem üppigen Vermögen zu profitieren und das Leben zu genießen.
Und der reiche Mann, der ihn entlassen hat, war ebenfalls ganz froh. Er konnte dadurch nämlich seine Kosten senken, um so noch schneller sein Ziel zu erreichen. Noch dieses eine, allerletzte Ziel, dieses fehlende Stück. Wenn es erreicht wird, dann kann er sich endlich zurücklehnen und das Leben in vollen Zügen genießen.
Die beiden waren zwar grundverschieden, hatten jedoch seit dem besagten Abend immerhin auch eine große Gemeinsamkeit.
So, und wir können wir jetzt diese Geschichte noch zu einem guten Ende führen?
Ach ja, es gab ja noch den Koch, der ebenfalls bei dem reichen Mann gearbeitet hat.
Ja, also der Koch war wirklich stets gut drauf, immer für einen guten Witz zu haben, hat ständig fröhliche Lieder gesummt, wenn er seine pochierten Aprikosen auf dem Nektarinen-Sorbet machte.
Tja, was können wir dazu sagen… Der Koch war wohl zum Glück nie dem Kreis dem neunundneunzig beigetreten.
Wollen wir für ihn mal hoffen, dass es auch so bleibt.
*Inspiriert von dem Buch „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ von Jorge Bucay