Vor gar nicht allzu langer Zeit, in einem gar nicht allzu weit entfernten Land lebte eine Eintagsfliege.
Sie hatte keinen Namen, weil es sich ja eigentlich auch gar nicht lohnt, einen Namen nur für einen Tag zu bekommen.
Soweit wir wissen, war sie ein richtiges Deichkind. Mit anderen Worten, sie wurde an einem Deich geboren, oder genauer gesagt, ist dort geschlüpft.
Nachdem unsere Eintagsfliege auf die Welt gekommen ist, hat sie sich erstmals umgeschaut und wusste dann direkt intuitiv, dass sie nicht allzu viel Zeit hat.
Sie hatte wirklich nicht viel Zeit für das, was es alles in ihrem Leben zu erledigen gab.
Doch was genau gab es denn zu erledigen?
Na ja, sich etwas zu Futtern zu besorgen war jedenfalls nicht drin, denn die Eintagsfliege hat dafür eigentlich keine Zeit.
Deshalb besitzen diese winzigen Tierchen übrigens auch keinen ausgebildeten Verdauungstrakt. Tja, immerhin eine Sorge weniger. 🙂
Schlafen ist übrigens ebenso wenig drin, denn die zur Verfügung stehende Zeit ist dafür eigentlich viel zu wertvoll.
Und wann soll sie denn überhaupt schlafen, wenn sie nur einen Tag zum Leben hat?
Und genau das gleiche gilt auch für viele andere Aktivitäten, die eine solche Fliege hätte unternehmen können.
Leider, muss man an dieser Stelle hinzufügen.
Aber immerhin ist ein Fortpflanzungsakt drin, nach einem kurzen Kennenlernen.
Allzu wählerisch darf sie dabei allerdings nicht sein, man nimmt eben vielmehr das, was kommt. Ohne Aussicht auf eine längerfristige Beziehung, versteht sich.
Nach dem vollzogenen Intermezzo dann einmal kurz Eier im Wasser ablegen, und danach kann man sich eigentlich schon fast verabschieden.
Das Leben einer solchen winzigen Fliege ist also durch und durch auf Effizienz getrimmt. Sozusagen von Anfang bis Ende durchgetaktet.
Na ja, Du wirst sicherlich verstehen, was ich meine.
Unsere Eintagsfliege hat diese ganze Situation jedenfalls recht schnell durchblickt und sich erstmal furchtbar darüber aufgeregt. Obwohl sie eigentlich auch dafür keine Zeit hatte, wenn man ehrlich ist.
Na ja, diese Emotion ist in unseren Augen allerdings völlig nachvollziehbar, denn ein solches Leben bietet in der Tat keine große Vielfalt an Handlungsoptionen und Entfaltungsmöglichkeiten.
Und der Zeitdruck gibt dem Ganzen noch den Rest. Man hat ja überhaupt keine zweite Chance, etwas wieder gutzumachen, alles oder nichts. Sobald auch nur eine Sache nicht klappt, wird das Ganze oft umsonst gewesen sein.
Unsere Eintagsfliege wollte sich der Situation jedenfalls nicht einfach so hingeben.
Sie hat lautstark protestiert und hat aus Prinzip darauf verzichtet, loszufliegen. Um dadurch etwas mehr Zeit für sich zu gewinnen und erstmal in Ruhe über alles nachzudenken.
Ob es am Ende gut war oder nicht, das weiß keiner. Es war eben nur etwas anders als bei dem Rest, und bereits das hat schon dafür gereicht, um darüber zu sprechen.
Einige Leute sagen übrigens, dass auch wir es jederzeit tun können. Anhalten und nachdenken. Auch wenn wir oft glauben, dafür gar keine Zeit zu haben.
Und ob die Nachdenkzeit eine gut investierte Zeit ist? Das weiß keiner so genau.
Es reicht aber oft schon dafür, um etwas anders als bei dem Rest zu sein. Und solche Kleinigkeiten können am Ende des Tages manchmal den Unterschied ausmachen. Der Taktung einen etwas anderen Sinn geben. Und alleine dadurch vielleicht etwas bewirken.
Und während Du darüber nachdenkst, hoffe ich, dass Du mir noch eine kurze Geschichte zum Abschluss erlaubst. So viel Zeit muss sein. 🙂
Es gab mal einen Holzfällermeister. Er hat eines Tages beschlossen, seinen Betrieb etwas zu vergrößern und hat eine Anzeige in der lokalen Zeitung aufgegeben.
Daraufhin meldete sich ein kräftiger Bursche, der ihm versichert hat, fleißig und gewissenhaft zu sein.
Der Holzfällermeister gab ihm eine Woche Probearbeit und kam täglich vorbei, um sich von den Arbeitsergebnissen zu überzeugen.
Am ersten Tag fällte der Bursche ganze zehn Bäume mit seiner Axt.
Das fand der Meister sehr beeindruckend, denn er wusste, wieviel Arbeit es bedeutete, zehn Bäume zu fällen. Um das an einem Tag zu schaffen, musste man wirklich durchgetaktet arbeiten. Viel Zeit für Pausen war dann wirklich nicht mehr drin.
Am zweiten Tag holzte der Anwärter acht Bäume ab. Das war immer noch ein beachtenswertes Ergebnis und der Meister war schon kurz davor, den Arbeiter zu loben. Doch allzu früh wollte er es auch nicht tun, also beschloss er, damit noch etwas zu warten.
Am dritter Tag fällte der Mann sechs Bäume und am vierten Tag nur vier. Er sah danach ziemlich fertig aus und gleichzeitig auch etwas enttäuscht.
Am fünften Tag reichte es nur für zwei Bäume, obwohl der Bursche sichtlich alles gab und sich dadurch fast an der Grenze der Erschöpfung befand.
Als der Meister das magere Ergebnis begutachtete, merkte er ziemlich schnell, wie stumpf die Axt des jungen Mannes inzwischen geworden ist. Tja, kein Wunder, dass er trotz seiner gesteigerten Anstrengungen immer weniger erreichte.
„Wieso hast Du denn die letzten Tage mit einer derart stumpfen Axt gearbeitet?“, fragte er den Burschen.
„Tut mir leid, ich bin nicht dazu gekommen, sie zu schärfen. Ich brauchte nämlich jede Sekunde meiner Zeit, um möglichst viele Bäume zu fällen.“, kam als Antwort zurück.
Vielleicht möchtest Du jetzt noch einmal über das nachdenken, was dir gerade so in den Sinn kommt, und dir dabei so viel Zeit zu lassen, wie Du brauchst.
Und wenn Du danach so weit bist, kannst Du damit gerne für den Moment abschließen.
Es wird nämlich mit Sicherheit noch einige Umstände geben, in denen Gedanken in aller Ruhe geordnet und vielleicht auch mal hier und da nachgeschärft werden sollten.
Ob man das dann wirklich konsequent durchzieht oder sich in einigen Fällen auch mal bewusst dagegen entscheidet – diese Option ist das, was uns, neben einigen anderen Eigenschaften, von den Eintagsfliegen unterscheidet.
Und, wer weiß, vielleicht ist es ja auch ganz gut so.