Man sagt, als Muse weiß ich Bescheid über das, was ist, was war und was sein wird.
Das mag sein, denn als Tochter des allmächtigen Zeus und Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, bin ich auch selbst dazu bestimmt, lange im Gedächtnis zu bleiben von demjenigen, der mir begegnet.
Viele setzen mich mit Vernunft und Gesetzmäßigkeit gleich. Kein Wunder, bin ich doch dafür bekannt, das Äußere der Dinge durchzudringen und beanspruche für mich deshalb die Vorherrschaft in Kunst und Erziehung.
Doch gleichzeitig bin ich auch das Nichtvertraute in dir, mehrdeutig und von Widerspruchsgeist durchdrungen.
Ich stehe für das Irrationale und kann dir das Unbegrenzte öffnen, wenn du dich mir öffnest. Einerseits in dir den Edelmut erwecken, dein Herz zum Guten lenken und dich mit dem Höheren kommunizieren lassen. Andererseits die Macht des Widerspruchs erstarken und Gegensätze in der Entgrenzung verweben lassen.
Deshalb suchen viele meine Nähe, um sich meiner Gunst zu erfreuen. Um die alltägliche Wahrnehmung hinter sich zu lassen, in andere Welten untertauchen. Oft unwegsame Gebiete, die reich an Urkräften sind, wo die Unruhe des Animalischen dem Suchenden Kraft und Inspiration gibt.
Doch als Muse bin ich vor allem auch eines: eine Frau.
Ich will dich verzaubern, bei dir einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, mich in deine Seele einprägen, ein Begehren in dir wachrufen, dich liebessüchtig machen.
Ich habe auf dich gewartet, denn ich suche eine Verschmelzung mit dir. Ich lasse dich eine Schönheit erleben, die du vorher nicht gekannt hattest.
Eine schlummernde Schönheit, die erkannt, gepriesen und gewürdigt werden will. Die nach kontinuierlicher liebevoller Aufmerksamkeit sucht.
Ich brauche dafür das Wissen, dass du mich suchst.
Denn ich bin nicht, wo du bist.
So wie das Auge nicht hören und das Ohr nicht sehen kann, so kannst du mich weder klar erkennen noch in anderer Weise kenntlich wahrnehmen. Mein Wesen gehört nicht dem Vorstellungsbereich an, in dem du deine Sinneserfahrungen machst.
Um meine Erscheinungswirklichkeit wahrzunehmen, musst du bereit sein, die Dimensionen deines Seinsbereichs zu überschreiten.
Ich werde dich jederzeit auf Probe stellen, um herauszufinden, dass du die Energie und den Mut hast, deine dingliche Vorstellungswelt zu verlassen. Denn nur so verdienst du es überhaupt, von mir verführt zu werden.
Ich spiele mit dir. Schmeicheln und abwerten, mich nähern und anschließend zurückziehen, dich in Schwierigkeiten bringen und wie ein kleines Kind behandeln.
Um so deine zärtliche Aufmerksamkeit, deine sanfte Beharrlichkeit immer wieder aufs Neue unter Beweis zu stellen.
Einen Akt des Willens, eingehüllt in sanfte Übergänge, allmähliche, fast unsichtbare Entwicklungen, gewinnend und gleichmäßig.
Kontinuierliche Aufmerksamkeit, Fürsorge und Sanftheit, jederzeitige Bereitschaft, meine freie Entscheidung anzunehmen und meinen Willen zu respektieren.
Kommst du damit klar?
Deine Trägheit ist für mich hingegen etwas Törichtes. Deine Passivität irritiert mich. Deine Schüchternheit gleicht einem wortlosen Bedürfnis. Erst wenn du vorankommst, wenn du dich mir immer wieder leidenschaftlich und begeistert anbietest, lasse ich dich in meine Seinssphäre herein.
Darin können wir uns fallenzulassen in einem langanhaltenden Zustand der Sanftheit, in dem unsere Verschiedenheiten zusammenfließen, in dem die Gesetze der Uhr nicht gelten.
Vermischung der Gefühle, Zärtlichkeiten, Liebkosungen, Schritte, Schatten, Düfte.
Teilhaben an den gleichen Erfahrungen. Miteinanderleben. Zusammensein.
Ich bringe dir bei, die Zeit nicht mehr als Abfolge getrennter Momente zu betrachten, die untereinander keinerlei Beziehung haben. Sondern als ein mächtiges Kontinuum, als die Zeit, die erinnert, bezeugt und nichts vergisst.
Die Zeit der Bindung, Verpflichtung, Kontinuität.
Die sich in diesen Eigenschaften der Liebe gleicht.
Denn erst in meiner Gegenwart kannst du anfangen zu sehen, zu fühlen und zu lieben.