Ich hätte mal eine Frage an dich:
Hast du schon mal etwas von einer Blumenuhr gehört?
Also einem Blumenbeet, an dem man die ungefähre Uhrzeit ablesen kann?
Es ist nämlich so, dass sich jede Blumenart zu einer bestimmten Uhrzeit öffnet.
Mohn- und Kürbisblüten öffnen sich früh am Morgen.
Etwa um 9 Uhr blühen die Margeriten.
Löwenzahn kommt erst mittags in die Gänge, genauso wie die Tigerlilie.
Und gibt viele Blüten, die sich erst nachmittags oder gar abends entfalten, wie zum Beispiel die Graslilie oder die Nachtkerze.
Man kann also ein Blumenbeet auf die Art und Weise bepflanzen, dass einem die aufgegangenen Blüten immer die ungefähre Uhrzeit anzeigen.
Und sich dann nur noch hinsetzen und geduldig beobachten.
Wahrnehmen, wie sich einzelne Blüten eine nach der anderen entfalten, als ob sie hintereinander Schlange stehen würden.
Sind wir dazu in der Lage?
Können wir derart feine Veränderungen wahrnehmen?
Einige Leute sagen, dass es in unseren ersten Lebensjahren definitiv der Fall ist.
Es ist nämlich so, als ob wir die ersten Jahre nach unserer Geburt auf einer großen, offenen Wiese stehen würden.
Und wir können mühelos in die Weite schauen, ständig Neues entdecken, Farben und Düfte dieser Wiese in ihrer vollen Pracht wahrnehmen.
Selbst verschiedene Grüntöne der Grashalme können wir erkennen.
Denn die Grashalme haben tatsächlich je nach Bodenbeschaffenheit und Wasserzufuhr einen schwankenden Chlorophyll-Gehalt, der ihren Grünton bestimmt.
Kinder können solche Feinheiten mit ihren neugierigen Blicken oft besser erkennen.
Und auch andere Sachen können sie viel genauer wahrnehmen.
Zum Beispiel genau erkennen, wann ein elterliches „Nein“ wirklich ein „Nein“ ist.
Es ist nämlich nicht immer der Fall, denn auch von einem „Nein“ gibt es feine Abstufungen.
Wenn man nach Süßigkeiten fragt oder einfach mal austestet, wie weit man gehen kann.
Manchmal ist ein „Nein“ nämlich eher ein „Vielleicht“ oder ein „Streng dich bitte etwas mehr an“ oder ein „Lass doch erstmal darüber reden“.
Oder vielleicht sogar ein astreines „Ja“, das einfach noch ein paar Momente braucht, um sich als ein Solches zu zeigen.
Schließlich ist auch nicht jedes „Ja“ ein eindeutiges „Ja“.
Manchmal ist es vielmehr eher so ein Zwischending.
In manchen Fällen eigentlich etwas ungewollt, mit einem darin verpackten Quäntchen Widerwillen.
Und auch das können die Kinder oft viel deutlicher wahrnehmen.
Übrigens genauso, wie sie die Zaubertricks der Erwachsenen meist durchschauen können.
Und zwar unabhängig davon, wie weit man sie vom Zauberhut wegsetzt, aus dem man ein weißes Kaninchen herausholt.
Diese Wahrnehmungsbreite, diese Intensität, diese Echtheit in uns geht oft zurück, wenn wir erwachsen werden.
Wir hören dann nicht mehr alles um uns herum, unser Blickfeld wird immer enger, wir nehmen immer weniger Düfte wahr, die Schwankungsbreite unserer Emotionen geht zurück.
Wir denken nur, wir würden die Sachen um uns herum genauso wahrnehmen.
Doch unser Wahrnehmen ist dann meistens schon längst zu einer Routine geworden.
Einer Routine, die oft gar nicht dazu ausgelegt ist, Neues in uns und um uns herum zu entdecken.
Unser prächtiges Feld, auf dem wir als Kind standen, wird deshalb immer kleiner mit der Zeit.
Wir sind zwar überzeugt, immer noch in die Ferne zu schauen.
Die Ferne, an die wir uns noch sehr gut erinnern können.
Wir können uns zumindest mal genau erinnern, wie diese Ferne mal aussah.
Wir sehen in vielen Fällen allerdings nur eine Erinnerung an die Ferne, die wir mal sahen.
Einen Abdruck davon, durch die Routine geformt und zugeschnitten.
Wir wissen deshalb oft schon im Voraus, was wir sehen wollen. Und manchmal sogar auch noch was wir sehen werden.
Und es fällt uns immer schwerer, ein „Nein“ von einem anderen „Nein“ zu unterscheiden.
Oder feine Abstufungen von Grüntönen in den Grashalmen zu erkennen.
Sie sehen, hören und fühlen sich für uns ab einem gewissen Zeitpunkt immer gleicher an.
Und deshalb schrumpft für uns auch die prächtige Wiese und wird immer mehr zu einer Erinnerung.
Kennst du den Roman „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway?
Na ja, ein Roman ist eigentlich fast schon zu viel gesagt, eher ein dünnes Büchlein, eine kleine Erzählung, die etwas Grundlegendes zusammenfasst.
Über jemanden, der es noch einmal wissen wollte. Der sich nicht nur mit einer Erinnerung an seine grüne Wiese zufrieden gab.
Und sich deshalb mit einem kleinen Fischerboot den Herausforderungen der wilden Natur stellte.
Um es vor allem sich selbst noch einmal zu beweisen.
Um zu begreifen, dass er noch lebt.
Und ich hätte zum Schluss noch eine Frage an dich:
Woran merkst du eigentlich, dass du noch lebst?
*Inspiriert von dem Buch Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway.